Eine Reise in die Welt der Zauberer und Magier, der Hexen und Heiler ist immer auch eine Reise in die Phantasie, die aus Träumen geboren wird. Denn in Träumen gibt es so gut wie keine Grenzen, und wenn doch, dann sind es solche, die vom Zauber der eigenen Vorstellungskraft geschaffen werden. Das literarisches Genre „Fantasy“, das oft und für mich nicht immer nachvollziehbar, in einem Atemzug mit „Science-Ficiton“ genannt wird, begeistert mich bereits seit meiner Kindheit. Die Erdsee-Saga von Ursula K. Le Guin gehört in meinen Augen zu einem Highlight dieser Stilrichtung.
Ursula K. Le Guin ist eine erfolgreiche Fantasy-Autorin, die sich auch in anderen Genres einen Namen gemacht hat. Die 1929 in Berkeley, Kalifornien, geborene Tochter einer Schriftstellerin und eines Professors für Anthropologie veröffentlichte 1968 mit „Der Magier der Erdsee“ den ersten Teil einer Saga, die zu einer der beeindruckendsten in der Fantasy-Literatur zählt. Eine weitere preisgekrönte Romanserie ist der 1966 mit „Rocannons Welt“ erstmals erschienene Hainish-Zyklus. Außerdem veröffentlichte sie zahlreiche Kinderbücher, verschiedene Kurzgeschichtensammlungen, Science-Fiction-Romane und einiges mehr. Für ihre Werke erhielt sie viele Ehrungen und Preise, zu denen unter anderem der Nebula- und der Hugo-Award zählen.
„Das Vermächtnis von Erdsee“ ist kein Roman, sondern eine Sammlung von fünf Geschichten, die sich der Vorgeschichte von Erdsee widmen. Erdsee ist eine Welt in der Magier und Drachen, Hexen und Zauberer zum Alltag gehören. Magie kann nur von Menschen angewandt werden, die von Geburt über magische Kräfte verfügen. Diese Kräfte zu erkennen, deren Träger auszubilden und sie in die richtigen Bahnen zu lenken haben sich die Meister der Zauberschule auf der Insel Rok zum Ziel gemacht.
Der Finder ist ein junger Schiffsbauer namens Otter, der in der Lage ist, aufgrund seiner noch unausgebildeten magischen Fähigkeiten die Struktur tief im Inneren des Bodens unter seinen Füßen zu erkennen und so Bodenschätze ausfindig zu machen. Für ihn beginnt eine Odyssee, als er von Hund, einem Aufseher des Piraten Losen, gefangen genommen und auf ein Schiff gebracht wird. In den Minen soll er nach wertvollen Erzen suchen, kann aber mit Hilfe von Hund, der stets unter Zweifeln angesichts seines Handelns leidet, entkommen. Dann gerät er in die Gefangenschaft des mächtigen, aber selbstgefälligen und eingebildeten Zauberers Gelluk, der ihn für seine Zwecke missbrauchen möchte. Eine Sklavin Gelluks ermöglicht es Otter, den Zauberer in eine Falle zu locken und erneut zu fliehen. Schließlich gelangt er auf die Insel Rok, auf die sich eine Gruppe Zauberinnen zurückgezogen hat. Er verliebt sich in die Magierin Amber und sie lehrt ihn, seine Macht einzusetzen. Gemeinsam errichten sie auf Rok die Schule der Magier und unterrichten dort junge Menschen in ihren Künsten. Otter geht nun hinaus in die Welt auf der Suche nach Talenten, die genügend magische Fähigkeiten besitzen, um ausgebildet zu werden. Doch bald kommt es zum Konflikt auf Rok, als die männlichen Magier fordern, dass nur Männer die wahren Meister sein sollen, da nur sie im Zölibat leben können. Frauen führten sie nur ins Verderben. Eine folgenschwere Entscheidung steht an.
Eine klassische Liebesgeschichte. Diamant, Sohn des reichen Händlers Golden, ist mit magischen Fähigkeiten ausgestattet. Sein liebstes Hobby aber ist die Musik. Sein Vater, der die Fähigkeiten seines Sohnes zunächst als Spielerei eines Kindes abtut, sieht in ihm einen Nachfolger für das Unternehmen und versucht ihn entsprechend zu beeinflussen. Diamant liebt Schattenrose, die Tochter einer Hexe, die in den Augen von Golden auf seinen Sohn einen schlechten Einfluss hat. Doch gelingt es ihm nicht, die beiden zu trennen. Golden spürt aber auch, dass in seinem Sohn mehr Fähigkeiten stecken, als er zunächst annahm und da er mit äußerstem Respekt der Magie gegenübersteht, schickt er seinen Sohn in die Lehre zu Meister Hemlock. Obwohl er sich in die Lehren stürzt, ist Diamant hin und her gerissen zwischen seinen magischen Fähigkeiten, seiner Leidenschaft für die Musik und seiner Liebe zu Schattenrose. Auch seinen Vater möchte er nicht enttäuschen. Eines Tages beschließt er gegen den Rat seines Vaters, die Magier-Ausbildung zu beenden und statt dessen dem ursprünglichen Wunsch seines Vaters nachzukommen und in das Unternehmen einzusteigen. Doch diese Entscheidung hat unerwartete Folgen und stellt seine Liebe zu Schattenrose auf eine harte Probe.
Der Magier Dulse unterrichtet einen jungen Mann mit herausragender magischer Begabung, den er nur den Schweigsamen nennt. Als Zauberer Ogion geht der Schweigsame später in die Stadt Gonthafen. Eine bevorstehende Naturkatastrophe bringt die beiden wieder zusammen. Gemeinsam retten sie Gonthafen vor dem Untergang.
Die junge Bäuerin Gabe nimmt einen Mann in ihr Haus auf, der sich Gully nennt und der behauptet, ein Heiler zu sein. Da im Hochmoor gerade eine Rinderseuche herrscht, kommt er in ihren Augen gerade recht. Und tatsächlich heilt er die Tiere nach und nach, bis eines Tages der Magier Falke auftaucht, der den Heiler kennt und der weiß, dass in Gully viel mehr steckt, als er nach außen zeigt. Denn er birgt ein dunkles Geheimnis.
Mit Hilfe von Elfenbein, einem Schüler von Rok, erhofft sich Schwebender Drache, die Tochter eines ständig Betrunkenen und heruntergekommenen Landedelmannes, nach Rok zu gelangen. Sie hat keine Ahnung, welche Fähigkeit sie besitzt, sondern verlässt sich ganz auf die Aussage der Hexe Rose, die ihr auch den Namen Irian gibt. Als es ihr trotz angeblicher Schutzvorrichtungen, die Frauen von Rok fernhalten sollen, verblüffend leicht gelingt, auf die Insel zu gelangen, bricht ein Streit zwischen den Meister-Magiern aus. Sollen die alten Traditionen fortgeführt werden oder soll Rok sich weiblichen Magier-Anwärtern wieder öffnen. Dabei übersehen sie, dass dies gar nicht die Frage ist. Die eigentliche Fragestellung reicht weit in die Geschichte der Menschen zurück und wird für Erdsee und Rok zukunftsweisend sein.
Eingerahmt werden die fünf Geschichten von einem ausführlichen Vorwort der Autorin, einigen Karten, die die Lage der Schauplätze verdeutlichen sollen und einer Beschreibung von Erdsee, die über die Welt, ihre Völker und Sprachen sowie die Rolle von Magie und Drachen informiert.
Mit den vorliegenden kurzen Geschichten (denn Kurzgeschichten im engen literarischen Sinne sind es nicht) geht Ursula K. Le Guin weit in die Vergangenheit von Erdsee zurück. Sie beschreibt, wie die Protagonisten der folgenden Romane zur ihren Rollen gekommen sind. Gleichzeitig werden geschichtliche Hintergründe des Zyklus erklärt. So spielt z.B. der Zauberer Ogion im ersten Buch „Der Magier der Erdsee“ eine entscheidende Rolle, im vorliegenden Band wird beschrieben wie er zu seinem Namen gelangt und welches Geheimnis er birgt.
Bisher habe ich lediglich den Einstiegsroman „Der Magier der Erdsee“ von Le Guin gelesen, doch schon damals ist mir eines klar geworden: Die Erdsee-Saga ist sowohl von der Handlung als auch vom schriftstellerischen Standpunkt her keine leichte Kost. Le Guin greift in ihren Geschichten grundlegende gesellschaftliche Problemstellungen auf und webt sie eine Fantasy-Story. Dabei bedient sie sich einer geschliffenen, vielschichtigen Sprache. Charaktere, Landschaft, Gesellschaftssystem und geschichtlicher Hintergrund erzeugen eine Geschlossenheit, die man in Büchern dieses Genres selten findet. Hat man sich einmal in den Schreibstil eingelesen, versinkt man in eine Welt aus Magie. Zauberer werden plötzlich ebenso selbstverständlich, wie Piraterie, Sklaverei und das Patriarchat, aber gleichzeitig auch in Frage gestellt. Le Guin stellt hohe Anforderungen an die Phantasie des Lesers und fordert ihn auch intellektuell. Denn die Handlungen sind Metapher für aktuelle Diskussionen. Dabei vermeidet sie jedoch die Festlegung auf ein bestimmtes Thema, wie es z. B. Marion Zimmer Bradley macht, deren Geschichten stets einen feministischen Anstrich besitzen. Auch wenn die Frage nach der Vorherrschaft des Mannes bei Le Guin stets im Hintergrund mitschwingt, ist ihr Spektrum deutlich breiter.</p><p>Die Geschichten aus „Das Vermächtnis von Erdsee“ im einzelnen zu beurteilen, fällt mir recht schwer. Sicherlich gibt es bessere, wie „Der Finder“ und weniger eindrucksvolle, wie „Die Gebeine der Erde“. In der Summe jedoch ergibt sich ein geschlossenes Portrait des Lebens in Erdsee mit all seinen Höhen und Tiefen, Magiern und Hexen, Bauern und Königen.
Das Vermächtnis von Erdsee“ ist eine guter Einstieg in die Erdsee-Saga (auch wenn das Buch 33 Jahre nach dem ersten Band entstanden ist) und vermittelt einen Eindruck von der Lebensweise, den Gesetzen und Bräuchen der Bewohner, aber es führt auch ein in die schriftstellerische Phantasiewelt der Ursula K. Le Guin. Gedanken und Gefühle spielen bei ihr stets eine gewichtige Rolle und leiten, wie bei jedem anderen Menschen, die Entscheidungen und Geschickte der Protagonisten. Daher nehmen sie auch relativ viel Raum ein. Wer sich darauf einlassen kann, wird in eine Welt entführt, aus der er sich nur mit Mühe wieder lösen kann. Le Guin schreibt faszinierend, detailreich und extrem stimmungsvoll, wobei die Grundstimmung etwas an Leichtigkeit vermissen lässt. Meist herrscht eine gewisse Nachdenklichkeit vor, die bis hin zur Verbitterung reichen kann. Entschädigt wird man dafür allerdings mit präzisen Charakterzeichnungen und einem Detailreichtum, bei dem man den feuchten Nebel des Hochmoors fast auf der Haut spüren kann.
Die Geschichtensammlung ist jedem zu empfehlen, der sich in die Welt von Erdsee vertiefen möchte, eine Welt der Phantasie, die allerdings auch ihre Schattenseiten hat. Der Schreibstil und die tief- und hintergründige Handlung machen dieses Buch, wie auch alle anderen Romane des Erdsee-Zyklus zu einer anspruchsvollen, für echte Freunde der Fantasy aber nicht minder unterhaltsamen Lektüre.