Manchmal beginne ich mit dem Lesen eines Buches und wünsche mir bereits nach zwanzig Seiten, es würde langsam zu Ende gehen. Die Vorstellung von Akteuren, Orten und Beziehungen wirken ermüdend und scheinen mir zunächst nicht einmal im Gedächtnis haften zu bleiben. Die Handlung, sofern es überhaupt eine gibt, plätschert mehr oder weniger ereignislos dahin und es fällt mir schwer, mehr als nur wenige Seiten zu lesen. Da ich vorzugsweise Abends im Bett lese, erging es mir auch bei dem Buch „Die Legende von Atlantis“ der Autorin Valerie M. Irwin so. Im Laufe der weiteren Seiten jedoch verflog dieses Gefühl mehr und mehr und wich einer freudigen Erwartung der weiteren Handlung.
Hinter dem Pseudonym Valerie M. Irwin verbirgt sich die englische Schriftstellerin Valerie Anand (Jahrgang 1937) die sich vor allem durch historische Romane einen Namen gemacht hat. Meist verwendet sie dabei das Pseudonym Fiona Buckley.
In der Nähe von Cornwall werden in einer Höhle zahlreiche Schrifttafeln gefunden, die sich als eine Art Tagebuch herausstellen. Sie erzählen die Geschichte des Untergangs von Atlan aus Sicht des Meisterkochs Ashinn, einem jungen Mann, der wohlbehütet als Findelkind bei seinen Pflegeeltern Narr und Ocean aufwächst und dadurch zur oberen Mittelschicht von Atlan gehört. Narr ist ein Gelehrter an der städtischen Akademie, Freigeist und Erfinder mit zukunftsweisenden Visionen. Als Mitglied des Rates von Atlan steuert er zudem die Geschicke des Landes mit. Die Kultur der Atlantier ist extrem hoch entwickelt und bietet viele Annehmlichkeiten, die dazu führen, dass sich ein gewisses Maß an Dekadenz entwickelt hat. Das gesellschaftliche Leben dreht sich zu einem großen Teil um die Götter Kya, Saraya, Lyuna und vor allem En, zu dessen Ehren eine Zitadelle mit goldener Zinne erbaut wurde.
Diese stürzt eines Tages durch einen Erdstoß herab, was insbesondere von den Dienern, einer Priesterschaft von En, als böses Omen betrachtet wird. Weitere Vorkommnisse, wie der Anstieg des Meeresspiegels im Hafen, immer häufigere kleinere Erdbeben, eine missglückte Expedition, bei der viele Seeleute und Soldaten ums Leben kommen und eine verheerende Überschwemmungskatastrophe, sorgen schließlich für Konflikte im Rat. Dort haben sich zwei Lager gebildet: Die einen um Narr und Prinz Ivorr, den Bruder des regierenden Königs Rastinn, führen die Umweltveränderungen auf natürliche Ursachen zurück. Sie gehen aufgrund von Untersuchungen davon aus, dass die Ereignisse lediglich der Anfang von weiteren sein werden und plädieren für die Errichtung eines neuen Atlan und die Evakuierung der Bevölkerung. Auf der anderen Seite stehen die Diener und ihre Anhänger, die den Zorn Ens in den Katastrophen sehen. Diesen könne man nur durch die Rückkehr zu den alten religiösen Riten und ein Leben ausschließlich nach den göttlichen Gesetzen wieder besänftigen. Zunächst erklärt sich König Rastinn bereit, den Evakuierungsplan von Prinz Ivorr zu unterstützen. Doch als Jateph, der Hohepriester stirbt und Diarr seinen Platz einnimmt, wendet sich das Blatt. Die Machtgier des neuen Hohepriesters und die Schwäche des Königs führen schließlich dazu, dass alle, die nicht nach Ens Gesetzen leben und den Eid auf ihn leisten, verfolgt werden und auch das Projekt „Neues Atlan“ wird auf Geheiß der Dienerschaft gestoppt.
Ivorr, Narr und ihre Anhänger lassen nichts unversucht, das Blatt noch einmal zu wenden und der drohenden Katastrophe zu entgehen, doch sie werden bald unter Arrest gestellt und haben dadurch keine Möglichkeit mehr, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. In einem letzten verzweifelten Akt versuchen sie, wenigsten einige Atlantier zu retten, denn der Untergang hat bereits begonnen.
Es gibt Ereignisse, die sich, obwohl schrecklich, grausam und unfassbar, stets wiederholen – immer wieder. Dazu gehört auch die grenzenlose Gier nach Macht, der schließlich unzählige Menschen zum Opfer fallen. Und das nicht nur, weil sie aufgrund ihrer kritischen Einstellung verfolgt werden, sondern wegen ihres blinden Gehorsams dem Machtstrebenden gegenüber. Die gesamte Weltgeschichte, selbst in jüngster Zeit, ist zudem gespickt mit Ereignissen, in der insbesondere religiöse Eiferer rücksichtslose Machtspielchen betreiben und damit Menschen in Gefahr bringen.
Insofern ist die Geschichte um den Untergang von Atlantis ein Spiegel unserer eigenen Geschichte. Eine Zivilisation, hoch entwickelt (Narr arbeitete sogar an der Entwicklung eines dampfbetriebenen Wagens), mit einem modernen, annähernd demokratischen Regierungssystem, ausgeprägten gesellschaftlichen Strukturen und einem gewissen Wohlstand, verfällt einer fanatischen Sekte, weil Aberglaube, Unwissenheit und damit Unverständnis gegenüber sachlichen Argumenten sie blind macht. Wieder ist es die Kirche, die den Fortschritt aufgrund selbstsüchtiger Interpretationen religiöser Schriften oder selbst erlassener Gesetzte „im Namen ihres Gottes“ behindern oder gar in einen Rückschritt verwandeln.
Allerdings bleibt im Falle der Dienerschaft eine gewisse Unsicherheit. Insbesondere beim Hohepriester Diarr ist man sich bis zu Schluss nicht sicher, ob lediglich sein eigenes Machtstreben der Grund für sein Verhalten ist, oder ob er sich tatsächlich von En berufen fühlt. Die Tatsache, dass er, ebenso wie König Rastinn, keinerlei Fluchtversuch unternimmt, selbst als ihm der Untergang Atlans endgültig klar wird, deutet aber auf eine bedingungslose Ergebenheit seinem Gott gegenüber hin. Rastinn hingegen erkennt irgendwann, dass er die falschen Entscheidungen getroffen hat und gibt seine Schwäche zu, indem er ebenfalls nicht aus Atlan flieht.
Valerie M. Irwin zeichnet in ihrem Buch eine lebhafte Gesellschaft, in der die Religion zwar allgegenwärtig ist, aber die Menschen nicht daran hindert, diversen Vergnügungen nachzugehen. Die Stadt Atlan ist voller blühendem Leben und bieten den Bewohnern allelei Annehmlichkeiten. Rauschende Feste, Tanzveranstaltungen und Vielweiberei gehören zum alltäglichen Leben. Selbst die Unterstadt, eine Art Slum für die Unterschicht, entpuppt sich als nicht wirklich schrecklich. Eher hat man den Eindruck eines zwar spartanischen Stadtteils mit recht ungeschliffener Bevölkerung, was sie aber nicht weniger zufrieden zu machen scheint. Der Autorin gelingt es, indem sie Ashinns Alltag, seine Reibereien mit dem Küchenpersonal, die Liebe zu seiner Stiefschwester Oriole und die Gespräche und Diskussionen mit seinem Pflegevater Narr, ausgiebig beschreibt, eine gewisse Sicherheit, ein angenehm komfortables Gefühl zu erzeugen, dem man sich gerne hingibt. Unterschwellig spürt man jedoch recht bald ein störendes Kribbeln und Sticheln, das sich unter das Wohlgefühl und die Harmonie mischt. Ashinn, der ein typischer Antiheld ist, versucht sich zunächst aus unangenehmen Situationen herauszuhalten. Er ist unsicher und diese Unsicherheit zieht sich bis zum Ende durch. Selbst als er vor dem Rat zum Tode verurteilt werden soll, ist er in seinem Widerwillen gegenüber eines Selbstverrats und der Entscheidung für den Tod noch hin- und hergerissen. Eher apathisch empfängt er das Todesurteil, das für ihn und gleichsam für ganz Atlan gilt.
Die anfängliche Unbeschwertheit der Geschichte lässt die weitere Entwicklung umso kontrastreicher hervortreten. Aus den eher belächelten Anhängern der Dienerschaft wird angesichts des Einflusses der Kirche ein mordend umherziehender Mob. Atlan brennt, weil die Menschen sich für eine Seite entschieden haben und ohne Reflektion alles anders Denkende als Bedrohung betrachten.
Die Kunst, eine anonyme Masse zu steuern ist im Machthunger seit jeher extrem ausgeprägt. Massenpsychologie spielt mit der Unwissenheit der Menschen und macht sie nur scheinbar wissend. Heute wie auch im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung funktioniert das auf vielen Ebenen. Sei es auf der harmlosen, wie z.B. in der Werbung, oder aber auch auf der poltischen, wie z.B. in den totalitären Staaten Nordkorea oder Iran. Dabei spielt es keine Rolle, von welcher Stelle die Werkzeuge zur Steuerung der Masse angewandt werden. Ob religiöse, politische oder geschäftliche Führer ist unerheblich. Wer die Masse für sich gewinnt, regiert. In Atlan war Rastinn schon bald nicht mehr der eigentlich Regent. Seine Schwäche hat Diarr Tor und Tür geöffnet, um seinen fanatischen Zielen näher zu kommen. Dass er dabei ins Verderben rennt, nahm er billigend in Kauf.
„Die Legende von Atlantis“ ist ein anfangs etwas schleppender, im Laufe des Buches aber zunehmend spannender Roman über eine Gesellschaft, die sich selbst zugrunde richtet indem sie sich in religiösem Eifer nicht selbst rettet. Die Beschreibungen von Atlan und seinen Einwohnern, den Hauptakteuren und der heraufziehenden Katastrophe ist sehr lebhaft und man beginnt mit Ashinn, Narr, Oriole, Prinz Ivorr, Juny, Erin und all den andere, die sich für die Rettung von Atlan einsetzen, zu fiebern. Sie wachsen einem ans Herz und man hofft, es möge am Ende ein hollywoodreifes Happy End geben. Statt dessen strahlt das Ende eine gewisse Traurigkeit aus, auch wenn, soviel sei verraten, Ashinn die Katastrophe überlebt. Man wünscht sich einen zweiten Teil, der die vielen offenen Fragen beantwortet. Doch ist die wirkliche Legende um Atlantis, die Frage, ob es vor über 10.000 Jahren tatsächlich eine derart hochentwickelte Kultur gegeben hat, ebenso unbeantwortet. Die letzten Worte von Ashinn sind voller Trauer um die verlorene Heimat und das ungewisse Schicksal der Freunde. Man fühlt unweigerlich mit ihm.
Ich halte das Buch für durchaus empfehlenswert. Freunden von historischen Romanen mit Interesse an lebhaften Gesellschaftszeichnungen sei der Roman ans Herz gelegt. Wer aber ein echtes Happy End erwartet, wird enttäuscht werden.