Jemand, der sich wie selbstverständlich im Internet bewegt, dort seine Kontakte pflegt, an Chat- und Forums-Diskussionen teilnimmt und regelmäßig E-Mails verschickt und empfängt, nimmt mit völlig entgeistertem und verständnislosem Kopfschütteln wahr, wie wenig sich die breite Masse für den Überwachungsskandal rund um NSA, GCHQ und BND interessiert. Dabei werden einem stammtisch-geborene Argumentationsplatitüden wie “Ich habe nichts zu verbergen” oder “Ihr postet doch auch alles bei Facebook” schon in einer Art Reflex entgegen gehalten, ohne dass die Gegenargumente tatsächlich auf fruchtbaren Boden treffen. Schlimmer aber noch als die zementierte Meinung der Nerd-Gegner ist eine umfassende Unwissenheit.
Kürzlich, in einem meiner regelmäßigen Telefonate mit einer nahen Verwandten, bin ich in die Falle dieser gutbürgerlichen Unwissenheit getappt. Ich setzte wie selbstverständlich ein gewisses Maß an Informiertheit voraus und zog gleichzeitig unbewusst den kühnen Schluss, dass die Information um die Überwachungsaffäre mit einer entsprechenden Empörung einher geht. Doch weit gefehlt! Obwohl meine Gesprächspartnerin gerade das 70. Lebensjahr erreicht hat, ist sie einigermaßen erfolgreich bemüht, sich im Internet zu bewegen. E-Mail, Messenger, Facebook und das aktive Surfen auf allen möglichen Webseiten sind ihr durchaus vertraut – man könnte sie daher der Generation “Silver Surfer” zuordnen. Doch als ich das Gespräch ohne weiter darüber nachzudenken auf den Überwachungsskandal lenkte, erntete ich eine Mischung aus Unwissenheit, Verständnislosigkeit und Gleichmut. Die Bemerkung “Jo, habe ich mal was von gehört.” gefolgt von der unbedarften Fragefolge “Ist das denn wirklich so schlimm? Wird das nicht ziemlich übertrieben?” machten mich erst einmal sprachlos. Wie konnte es sein, dass jemand in diesem Land lebt, der angesichts dieses Skandals keine hochgradige Betroffenheit zeigt? Und das auch noch in meinem direkten Verwandtenkreis. Schnell schoss aus mir ein Redeschwall von Argumenten heraus und erst als ich merkte, dass es auf der anderen Seite der Leitung verdächtig still wurde, dämmerte es mir: Keines der Argumente, die ich vom Stapel gelassen hatte, erreichten ihr Ziel. Denn für meine Verwandte sprach ich von einer anderen Welt. Trotz meiner inzwischen 50 Lenze und trotz der Tatsache, dass ich KEIN Softwareentwickler bin, habe ich mich zumindest sprachlich doch mehr und mehr zu einem dieser abgehobenen Nerds entwickelt. Mir wurde klar, dass hier gerade zwei Welten aufeinander trafen, deren Schnittmengen zumindest nicht im Internet liegen. Also versprach ich einigermaßen hilflos, mal etwas zum Nachlesen und zum Anschauen per E-Mail zu schicken und hoffte, damit zumindest einen kleinen Beitrag zur Aufklärung leisten zu können.
Inzwischen ist mir aber klar geworden, dass ich bei diesem Telefonat auf das größte Problem gestoßen bin, das die digitale Gesellschaft derzeit zu lösen hat. Deutschland befindet sich noch immer in einem Umbruch, der erst von einem geringen Teil der Bürgerinnen und Bürger vollzogen wurde. Für viele ist der Sprung, den Computer, respektive das Internet, auf einer ähnlichen Stufe zu sehen, wie damals das Radio und heute den Fernseher, noch nicht vollzogen. Sie befinden sich noch immer in der Boris-Becker-Phase “Bin ich schon drin?”. Die Chancen, diesen nächsten Schritt zu machen, den Schritt, wo der PC vom Ehrfurcht gebietenden Gelegenheitswerkzeug zum selbstverständlichen Tagesbegleiter wird, sind ziemlich gering. Gründe hierfür gibt es mehrere – ebenso wie Schuldige.
Ja, genau diejenigen, die sich gerne weltoffen geben, da sie ja freimütig mit selbiger über das Internet kommunizieren, gehören in meinen Augen zu den Schuldigen (also auch ich). Sei es die Piratenpartei oder auch die vielen unabhängigen Aktiven, die sich so im Internet tummeln, alle legen bei ihren Diskussionen und Veröffentlichungen eine derart ausgeprägte Arroganz an den Tag, dass ein “normaler” Internetnutzer sich nur ausgegrenzt fühlen kann. Da wird mit Fachbegriffen geprotzt und bei entsprechender Kritik überheblich auf Wikipedia verwiesen (wo Fachbegriffe wiederum mit Fachbegriffen erklärt werden), da werden Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Computer hergestellt, die sich nur wirklich eingeweihten Sozialwissenschaftlern erschließen und, jetzt kommt bei mir auch mal der Spießer durch, garniert wird das Ganze durch ein äußeres Erscheinungsbild der Blogger und Kommentatoren, das geradezu herausschreit: “Seht her, ich bin ein Nerd!”. Ich hasse es eigentlich, auf das Äußere zu verweisen und bin selbst nicht immer ganz massekompatibel, aber der kleine Spießer in mir kann sich eben doch in die Denkweise von Otto Normalverbraucher hinein versetzen. Und für den ist das ein Stein des Anstoßes (übrigens leider auch ein Grund, weshalb die Piraten so manche Wählerstimme nicht bekommen), ein Faktor, der bei dieser Gesellschaftsschicht eindeutig Glaubwürdigkeit kostet – denn das Auge isst mit.
Wie heißt es so schön “Der Fisch stinkt vom Kopf her”. Obwohl unsere Regierung Entscheidungen vorzugsweise an der Industrie, anstatt am Bürger orientiert, hat das in den Köpfen der Protagonisten keineswegs etwas mit Fortschrittsdenken zu tun. Merkel, Westerwelle, Schäuble oder auch von der Leyen sind an Unwissenheit im Bezug auf Netztechnologien kaum zu überbieten. Das bewies unlängst unsere Kanzlerin mit ihrer denkwürdigen “Neuland”-Rede nur allzu deutlich. Da der konservative Deutsche, zumindest dem Klischee nach, oft aus langer Tradition und ohne sich weiter für Wahlprogramme zu interessieren CDU/CSU oder SPD wählt, übernimmt er schnell auch das, was ihm seine favorisierte Partei vorlebt. Eine moderne Denkweise gehört dabei nicht unbedingt zu Repertoire der Etablierten. Also ist es auch nichts, mit dem man sich als Normalbürger befassen müsste – und eine Meinung muss man sich erst recht nicht bilden. Dabei wäre es die Aufgabe einer Bundesregierung, die Vermittlung von Medienkompetenz in jeder Hinsicht (also auch bezogen auf das immer niveaulosere TV) massiv zu fördern. Das hingegen könnte aber dazu führen, und jetzt spiele ich mal den Verschwörungstheoretiker, dass die Menschen plötzlich beginnen, Dinge kritischer zu betrachten und sich eine differenzierte Meinung zu bilden. Für die Regierung wäre das ein Desaster, denn Dumm lässt sich einfacher regieren.
Das, was die Nerds verbal durch das Internet posaunen, spiegelt sich in der Technik selbst wider. Hersteller übertrumpfen sich im Monatstakt mit neuen Funktionen, neuen Programmen und noch fortschrittlicheren Gerätschaften. Ein simples Textverarbeitungsprogramm wie Microsoft Word kann inzwischen so viel, dass ein einfacher Benutzer gerade mal 10 – 20 % des Leistungsumfangs tatsächlich nutzt. Ich frage mich, was soll das? Wer soll das alles verstehen? Ich bin seit Ende der 80er in der Computerbranche und habe die Geburt des Internet sozusagen live miterlebt – doch auch ich halte inzwischen nicht mehr mit (obwohl ich es nach wie vor versuche). Wie soll jemand, der nicht tagtäglich die neusten Techniknews liest, da noch durchblicken? Eigentlich bleiben dem gemeinen Verbraucher nur zwei Möglichkeiten: Entweder er glaubt unkritisch den zahlreichen Werbeslogans und wird so zur Melkkuh der Industrie (was unsere Regierung begrüßen würde – Stichwort: Wachstum) oder er macht dicht und betrachtet die neuen Technologien mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Respekt und Angst. Damit verbaut er sich die Möglichkeit, mehr zu erfahren und Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. Ob nun Werbehöriger oder Technikgegner, in beiden Fällen ist das Maß an Unwissenheit weitgehend vergleichbar.
Und was hat das nun mit dem Überwachungsskandal zu tun? Echte Empörung über die Aktivitäten der Geheimdienste geht in allererster Linie von unabhängigen Intellektuellen und den Technikfreaks und Nerds aus. Meine Verwandte aber will inzwischen überhaupt nicht mehr wirklich verstehen, worum es geht, denn sie hat schon längst dicht gemacht. Für sie ist es bequemer, jedesmal CDU zu wählen und zu glauben, was die Regierung erzählt. Und wenn der Pofalla sagt, dass sich alle Aktivitäten der Geheimdienste im gesetzlichen Rahmen bewegen, dann muss das wohl auch stimmen. Sagt ja die Regierung. Vermutlich wird meine Verwandte erst wach, wenn eines Tages die Ermittlungsbehörden vor ihrer Tür stehen, weil sie bei Facebook ankündigt, dass sie beim Tag der offenen Tür im Bundeskanzleramt gemeinsam mit einer muslimischen Bekannten eine Eisbombe essen möchte. Aber dann ist es längst zu spät, denn unsere Freiheit ist jetzt schon bedroht. Aber die meistens scheint es nicht so recht zu interessieren.